Beschämt sacke ich in mich zusammen. Schallendes Gelächter dringt an meine Ohren. Wie ein begossener Pudel sitze ich da und möchte vor lauter Scham am liebsten im Boden versinken. Wir sind eine Gruppe von Mädchen und Jungen und spielen das Stadt/Land-Spiel. Der Buchstabe «H» ist an der Reihe. Welcher Berg beginnt mit «H»? Für mich als kleines Mädchen ist das ganz klar, «Hüetliberg», der Hausberg von Zürich. Die hämisch lachenden Gesichter und die auf mich gerichteten Blicke machen mir schlagartig bewusst, dass anscheinend etwas nicht stimmt. Seither weiss ich, dass der Berg nicht «Hüetliberg», sondern Uetliberg heisst. Von diesem Zeitpunkt an, hasste ich dieses Spiel und vermied es, in Zukunft wieder zu spielen.
Dieses Erlebnis, bei dem ich öffentlich blossgestellt wurde und ich mich schämte, hat sich damals tief in meine Kinderseele eingebrannt. Es liegt Jahrzehnte zurück und heute kann ich darüber lachen, aber damals war es eine sehr beschämende Erfahrung.
Was ist Scham?
Scham ist eine unangenehme Emotion, die wir alle kennen. Sie gehört jedoch zu unserem Menschsein. Wenn wir uns schämen, möchten wir uns am liebsten unsichtbar machen. Wir schämen uns, weil wir von anderen beschämt oder blossgestellt, unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden sind, eine soziale Norm verletzt haben, in eine peinliche Situation geraten sind oder etwas ans Licht gekommen ist, das wir geheim halten wollten.
Der deutsche Psychologe, Sozialwissenschaftler und Sachbuch-Autor Dr. Stephan Marks hat sich eingehend mit der Scham auseinandergesetzt. Er nennt sie die tabuisierte Emotion. Es sei eine Emotion, die oftmals gar nicht bewusst beachtet werde und um jeden Preis vermieden werden wolle.
Er machte deutlich, dass Scham allgegenwärtig ist und sich ganz unterschiedlich zeigen kann.
Wie zeigt sich Scham und was kann sie bewirken?
Hinter welchen Verhaltensweisen verbirgt sich möglicherweise Scham? Dieser Frage haben wir uns in der Ausbildungsgruppe gestellt und ich musste erstaunt feststellen, dass Scham unglaublich viele Gesichter haben kann. Sie versteckt sich oft hinter:
- arrogantem Auftreten
- aggressivem Verhalten
- Überanpassung
- Rechtfertigung
- Trotz und Verweigerung
- Überheblichkeit
- Schuldzuweisung
- Abwertung von anderen Menschen
- Gewaltbereitschaft u.v.m.
Scham zeigt sich auch in der Körperhaltung. Oft schlagen wir dann die Augen nieder, senken den Kopf oder bedecken das Gesicht mit den Händen. Wir versuchen den Blickkontakt zu vermeiden, manchmal wirken wir wie versteinert oder Schamröte steigt uns ins Gesicht.
Zu viel Scham bewirkt, dass unser Gehirn in einen Überlebensmodus wechselt. Dann funktionieren wir nur noch mit Kampf, Flucht oder tot stellen. Wir können nicht mehr angemessen und adäquat auf Situationen reagieren.
Was sind typische Auslöser von Scham?
Viele von uns sind von Eltern, Bezugs- oder Autoritätspersonen beschämt worden, weil wir Fehler gemacht haben, eine Schwäche haben, uns nicht wunschgemäss verhalten oder einfach anders sind als die Norm. Mir wurde auch bewusst, dass viele Menschen, die von anderen beschämt wurden, oft selber andere Menschen beschämen. Hinter vielfältigen Auslösern von Scham stehen vier elementare Bedürfnisse. Wenn diese verletzt werden, löst das Scham aus.
#1 Fehlende Anerkennung
Ein Grundbedürfnis von uns Menschen ist Anerkennung. Wenn uns diese entzogen oder bewusst vorenthalten wird, dann fühlen wir uns beschämt. Schon ein kleines Baby will gesehen und wahrgenommen werden. Daran ändert sich nichts in unserem späteren Leben. Immer wieder höre ich in meiner Praxis Beispiele von Menschen, die früher, aber auch in ihrer aktuellen Lebenssituation nicht wahrgenommen, respektiert und anerkannt werden. Das erleben sie als sehr beschämend und schmerzhaft. Leicht kann da bei ihnen der Eindruck entstehen, etwas sei mit ihnen nicht richtig.
#2 Mangelnder Schutz
Beschämung wird auch dann ausgelöst, wenn unser Schutzraum missachtet wird. Das ist besonders der Fall, wenn wir körperliche oder emotionale Gewalt erleben und wir uns in unseren Beziehungen nicht sicher fühlen können oder konnten. Jegliche Art von Missbrauchserfahrung oder anderen Grenzverletzungen und alle Formen von Demütigungen oder Mobbing erleben wir als beschämend. Genauso, wie wenn vertrauliche Informationen weitergereicht werden oder uns jemand in den Rücken fällt.
#3 Ungenügende Zugehörigkeit
Wir alle wollen irgendwo dazugehören. Ausgestossen zu werden, führt darum zu einer starken Beschämung. Viele Regeln und Normen zielen darauf ab, dass wir zu einer Gruppe gehören oder unser Gesicht wahren können. In meinem Büchergestell liegt eine alte Ausgabe des «Knigge». In diesem Ratgeber wurden viele Regeln aufgestellt, die helfen sollten, nicht lächerlich gemacht zu werden, sondern dazuzugehören. „Das macht man doch nicht! Was würden nur die anderen denken, das gehört sich nicht“, sind Aussagen, die viele von uns gehört und manchmal verinnerlicht haben. Auch wenn diese Regeln von damals längst überholt sind, werden wir heute mit anderen Ansprüchen konfrontiert wie: „Du musst schön, erfolgreich, leistungsfähig etc. sein, dann gehörst du dazu!“
#4 Angeschlagene Integrität
Wenn wir gegen unsere eigenen Wertvorstellungen handeln, bewirkt das Beschämung. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich mich sehr abschätzig in einer Gruppe über eine nicht anwesende Person geäussert habe. Nachher habe ich mich furchtbar schlecht gefühlt und mich richtig geschämt. Auch wenn diese Person nie etwas davon erfahren hat, habe ich meine eigenen Wertvorstellungen verletzt und mich berechtigterweise geschämt.
5 Tipps, die dir helfen, hilfreich mit deiner Scham umzugehen
„Schäme dich! Du bist so ein «grusiges» (schreckliches) Kind“; höre ich einen Mann zu seinem kleinen Kind sagen. Ich bin in einem Buchladen und zucke innerlich zusammen. Das Kind tut mir leid, wie es da in aller Öffentlichkeit herabgesetzt und beschimpft wird. Solche Sätze haben leider viele von uns auch schon gehört oder selber gesagt. Aus meiner Praxis als Life Coach weiss ich, dass sie oft Spuren in der Seele hinterlassen. Beschämende Erfahrungen können uns das Gefühl geben, dass wir nicht o.k. sind. Es ist dann wie ein Stachel, der tief in uns steckt und unseren Alltag behindert.
Hier ein paar Impulse, die dich dabei unterstützen, mit deiner eigenen Scham hilfreich umzugehen.
#1 Gehe offen und wertschätzend mit deiner Scham um!
Habe Mitgefühl mit dir selber und werde dir deiner Schamgefühle bewusst! Solange Scham unbewusst ist, hat sie eine grosse Macht, weil sie auf andere abgewälzt werden will. Darum decke sie auf, benenne sie und gib den Schamgefühlen einen Platz.
#2 Sei dir bewusst, dass dein Wert unantastbar ist und gebe dir selber Anerkennung!
Niemand kann uns daran hindern, uns selbst Anerkennung zu geben. Darum lerne, dich selber anzunehmen und zu respektieren. Mir hilft es zudem, zu wissen, dass ich von Gott geliebt und anerkannt bin und darum auch mich selber lieben darf. Du kannst auch dein Bewusstsein schärfen, damit du erkennst, wenn dir jemand etwas Wertschätzendes mitteilt. Lerne es zu registrieren und bewusst Anerkennung anzunehmen. Immer wieder erlebe ich, wie Menschen ein Kompliment bagatellisieren, indem sie sagen: „Ach, das ist doch nicht der Rede wert“.
#3 Lerne dich gut zu schützen!
Es geht darum, eine gesunde Balance zwischen übertriebenem Rückzug und unangemessenem, aggressiven Vertreten der eigenen Grenzen zu finden. Insbesondere, wenn wir neu lernen, unsere eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu kommunizieren, kann uns dies wie eine Gratwanderung vorkommen. Gut für sich zu sorgen, ist eine Kompetenz, die etwas Übung braucht. Sie bedingt, dass wir unsere eigene Verletzlichkeit respektieren, uns selber und andere ernst nehmen und uns selbstverantwortlich schützen.
#4 Überlege dir, welche Zugehörigkeit dir wichtig ist!
Es gibt Menschen und Gruppen, die uns schaden. Dr. Stephan Marks wies darauf hin, dass der Verlust von Zugehörigkeit im Gehirn als lebensbedrohlich registriert wird und so stark registriert wird, wie bei einem Überlebenskampf. Das ist eine Erklärung dafür, warum so viele Menschen nicht wagen, sich von anderen Menschen zu lösen, die ihnen schaden. Trotzdem lohnt es sich, zu reflektieren, welche Beziehungen du weiterhin pflegen oder welche du loslassen möchtest.
#5 Sei integer und lerne immer besser, deinen eigenen Werten treu zu bleiben!
Sei dir selber treu und handle nach deinen Werten. Das braucht zwar manchmal Mut, aber es bringt dir auch viel Zufriedenheit.
Mein Fazit
Scham ist und bleibt eine herausfordernde Emotion, die wir sehr unangenehm erleben. Nur zu verständlich, dass wir sie am liebsten einfach loswerden wollen und alles tun, um sie nicht zu spüren. Wie bei anderen Emotionen auch, geht es jedoch darum, sie nicht einfach zu verdrängen, sondern ihre Botschaft zu verstehen und mit ihr zu leben. Den Umgang mit Emotionen, wie z.B. Scham, kann man lernen. Was dir dabei hilft, habe ich einem anderen Blogbeitrag beschrieben, und auch, wie du dabei deinen Körper als wertvolle Ressource nutzen kannst. Willst du dich weiter mit diesem Thema vertiefen? Dann lies gerne hier weiter: Scham – die tabuisierte Emotion von Stephan Marks.
Abschliessen möchte ich mit folgendem Zitat, das den Nutzen von Scham wunderbar zusammenfasst:
Scham ist die Wächterin der menschlichen Würde.
Leon Wurmser
Ich finde, es lohnt sich, der Scham immer wieder offen, interessiert und wohlwollend zu begegnen, denn sie hilft uns,
- unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu regulieren,
- geltende Normen in unserem Umfeld einzuhalten,
- aufzudecken, wenn wir uns unangemessen oder falsch verhalten haben und
- Scham lernt uns, uns selber treu zu bleiben.
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Was für ein toller Artikel. So habe ich die Scham noch nie betrachtet. Danke dir für diesen neuen Einblick!
Liebe Claudia, es freut mich sehr, dass dir mein Artikel gefällt und dir einen neuen Einblick in das Thema Scham gegeben hat. Danke vielmals für die Rückmeldung.
Wow, sehr spannend. Danke für diesen tollen Blogbeitrag, aus dem ich viel gelernt habe. Sehr interessant, welche Funktion die Scham hat und dass man die Learnings daraus positiv betrachten sollte.
Liebe Kerstin, Danke herzlich für dein wertschätzendes Feedback. Ich freue mich sehr darüber und finde es toll, dass du daraus etwas für dich mitnehmen konntest.
Ein toller und wichtiger Artikel, liebe Esther! Ich konnte viel für mich mitnehmen, besonders deinen Appell, die Scham positiv für uns zu nutzen. Danke dafür.
Es freut mich sehr, dass du viel für dich mitnehmen konntest, liebe Silke. Herzlichen Dank für dein Feedback, es ist für mich sehr motivierend.
Liebe Esther
Danke für den invormativen Beitrag.
Liebe Margrith, vielen Dank für deine Rückmeldung und sehr gern geschehen.
Liebe Esther, durch deinen Artikel habe ich ganz viel über Scham gelernt – für mich selbst und als Logopädin auch für meine Patient*innen. Vielen Dank!
LG Wiebke
Liebe Wiebke, es freut mich sehr, dass du etwas Neues über Scham lernen konntest und es dich auch für deine Patient*innen inspiriert hat. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du als Logopädin immer wieder mal mit dem Thema Scham konfrontiert wirst.
LG Esther
Ein spannender Blogbeitrag!
Ja, die Diskussion Schuld/Scham kenne ich mit dem Unterschied zwischen Scham-/Schuldkultur: was ist wichtiger die Ehre/Würde zu bewahren und harmonische Beziehungen oder die Wahrheit zu sagen?
In Ehre- und Schamkulturen ist der Erhalt der Beziehung am wichtigsten.
Dann ist es z.B. unhöflich, jemandem nein zu sagen – zu hart für den Gegenüber. Angebrachter wäre zu sagen: „ein anders mal“ und alle verstehen, dass es damit auch kein Verprechen ist. In einer Schuldkultur wäre dies gleich nicht die Wahrheit zu sagen.
Personen aus einer Schamkultur frage ich nicht, ob sie das Gesagte verstanden haben – sie sagen immer „Ja“! Sie wollen sich doch nicht bloss stellen. „Was meinen Sie dazu?“ wäre eine offene Möglichkeit das Gespräch weiterzuführen.
Liebe Carole, was für ein wertvoller Hinweis.
Vielen herzlichen Dank fürs Teilen. Gerade wenn man mit anderen Kulturen zu tun hat, ist es so wichtig, solche Unterschiede zu erkennen und sie zu berücksichtigen.
Liebe Grüsse, Esther